Afterdark.

Samstag, Juli 7

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23:56 Uhr
Vor uns liegt eine Großstadt. Mit den Augen eines hoch am Himmel fliegenden Nachtvogels nehmen wir die Szenerie wahr. Aus dieser Höhe wirkt die Stadt wie ein riesiges Lebewesen. Oder wie eine künstliche Ansammlung unendlich vieler ineinander verschlungener Existenzen.

„Afterdark" – nach einer Jazznummer – ist das spannungsvolle Buch einer Nacht, erzählt wie durch das Auge einer Kamera. Diese streift über das Panorama der nächtlichen Großstadt: Leuchtreklame und digitale Riesenbildschirme, Hip-Hop aus Lautsprechern, Ströme erlebnishungriger Angestellter und weißblonder Teenager in Miniröcken. Wir begegnen dem jungen Mädchen Mari mit einem Musiker in der Filiale einer Restaurant-Kette sowie der Geschäftsführerin eines Love-Hotels, in dem gerade eine chinesische Prostituierte von einem Freier misshandelt wurde. Wir sehen im 24-Stunden-Supermarkt einen Büroangestellten, wie er das Handy der Chinesin aus dem Love-Hotel in ein Kühlregal legt.

(Zitate: Seite 9 und dumont-buchverlag.de | Cover: dumont-buchverlag.de)

Naoko's Lächeln hat es geschafft, mich völlig in seinen Bann zu ziehen und wie nicht anders zu erwarten, ist es Haruki Murakami gelungen, genau das mit Afterdark zu wiederholen. Sein Stil ist einfach unvergleichlich, obwohl man die gesamte Handlung nur durch eine Art unbeteiligte Kamera verfolgt, werden durch die Verhaltensweisen und Dialoge der Figuren ihre tiefsten Emotionen und Gedanken offenbart - etwas, dass den meisten Autoren nicht einmal gelingt, wenn sie aus der Sicht der jewaligen Charaktere schreiben. 

Einen wirklichen Protagonisten gibt es nicht - Mari, die verloren in einem Restaurant sitzt; ihre Schwester Eri, die ewig zu schlafen scheint; Takahashi, der sofort durch deine offene Art sympathisch wirkt und der Angestellte, der einsam in seinem Büro sitzt, während klassische Musik aus einer Anlage erklingt. Bis auf die Schwestern kennen sich die Figuren untereinander nicht und trotzdem haben sie alle miteinander zu tun - irgendwie. Auch wenn sich einige von ihnen nie begegnen, sind ihre Geschichten doch miteinander verflochten. Es hat mich unglaublich fasziniert, wie ihre Erlebnisse dieser einen Nacht miteinander verschmelzen, ohne das sie auch nur das geringste davon ahnen oder dem in irgendeiner Art Gewicht beimessen.

Etwas, das mich an Murakamis Sitl schon immer begeistert hat, ist seine Fähigkeit, seinen Figuren "Leben" einzuhauchen. Scheinbar nebenher beleuchtet er die Licht- und Schattenseiten der verschiedenen Charaktere, enthüllt ihre Motivationen und Geschichten, lässt sie praktisch atmen. Jeder einzelne und sei es nur jemand, der nach wenigen Zeilen wieder verschwindet, wirkt unglaublich lebendig, als wäre man diese Person erst wenige Momente zuvor über den Weg gelaufen.

Genauso erstaunlich finde ich es, dass es Murakami in weniger als 250 Seiten eine Geschichte spinnt, die einen nicht mehr loslässt. Lange, nachdem ich die letzten, sehr vieles andeutend und doch wenig erklärenden Worte gelesen habe, sind mir noch Gedanken zu Mari und Eri durch den Kopf gegangen. Was nun passieren könnte, was vor dieser Nacht gewesen ist und wie die Geschehnisse die Charaktere und ihre zukünftigen Entscheidungen beeinflussen könnten.

Es lassen sich nicht einfach Worte zu diesem kleinen Meisterwerk finden - so sehr hat es mich berührt und so schwer ist zu greifen, was in Afterdark eigentlich geschieht. Dies war das zweite Buch, das ich von Murakami gelesen habe und es wird auf jeden Fall nicht das letzte gewesen sein. Zehn Triads an Afterdark!

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